Mein Beitrag zu Jutta Helds Blogparade “Sei UnPerfekt”. (Nachtrag Oktober 2016: Hier kannst Du Dir Juttas eBook mit allen Beiträgen zur Blogparade kostenlos holen!)

Mit dem eigenen inneren Anspruch, alles perfekt hinkriegen und zu 100 % schaffen zu wollen, machen sich viele Menschen fix und fertig – ein echter Klassiker, dieser Energieräuber. Bei meinen Gedanken für Dich, wie Du lernen kannst, alles etwas gelassener anzugehen, hilft uns meine (mehr oder weniger) fiktive Begleiterin ANNA, eine fortgeschrittene Schülerin im Seelenbalancieren.

Bevor ich mit zwei ANNA-Geschichten, ähnlich wie in meinem Selbststärkungsbuch, einsteige, habe ich eine Empfehlung für Dich: Schaut Dir doch bitte das Foto unter dem Aspekt “perfekt” an und registriert, welche Gedanken Dir da so kommen.

ANNA-Geschichte 1: “Niente panico” – meine erste Italienischstunde mit Anfang 30

Damals war ich erholungsbedürftig, so mitten in der Doktorarbeit neben einer ganzen Stelle her. Klingt vielleicht verrückt, war für uns aber die richtige Idee: Mein Freund und ich hatten Lust darauf, einen Italienurlaub mit einem Sprachkurs in der Emilia Romagna zu verbinden. Wir hofften (zurecht!) auf gutes Essen, Bewegung in toller Natur, Abwechslung für den Kopf. Die Sprachschule hieß wegen der Farbe des Hauses Scuola Verde [“grüne Schule”]. Beim Sprachtest unter Anleitung des deutschen Schulleiters wurden wir beide in die Anfängerklasse eingeteilt. Der Superluxus: Wir zwei bildeten eine Miniklasse und bekamen gemeinsam eine Lehrerin.

Cristina war uns sofort sympathisch. Sie konnte allerdings – zumindest offiziell – kein Deutsch, kein Französisch und kaum Englisch. Mir war klar, da würden mir wohl auch meine Latein- und Basis-Spanischkenntnisse nicht helfen. Schriftliches Italienisch konnte ich mir zu dem Zeitpunkt ganz gut ableiten, und auch vom langsamen Mündlichen bekam ich ein bisschen was mit. Unter anderem, dass Cristina mich zu Beginn unserer ersten Stunde aufforderte, von mir – auf Italienisch! – etwas zu erzählen. “Aber, ich weiß doch nicht einmal, wie man korrekt ‘ich heiße Anna’ sagt! Das erwartet sie anscheinend von mir — Was sage ich denn jetzt? — Was kann ich mir ableiten? — Mist, keine Ahnung … Hilfe!” So in der Art ging’s in mir ab. Ergebnis: Ich fühlte mich total blockiert, mir stiegen die Tränen in die Augen und ich stammelte aus einer kompletten Hilflosigkeit heraus “non posso” (“Ich kann nicht”).
Cristina sah mich ruhig an und sagte herzlich: “Anna. La regula numero uno della Scuola Verde: Niente panico!” [“Regel Nummer eins der Grünen Schule: Keine Panik!”; niente wird als ni-ente gesprochen]. DAS verstand ich! Die Fürsorglichkeit unserer Lehrerin tröstete mich, wir mussten lachen und ich konnte mich entspannen. Dann gönnten wir uns einen Neustart. Der Kurs war übrigens wunderbar und hat uns richtig viel gebracht. Den Spruch “niente panico” habe ich als Helferlein behalten, immer verbunden mit einem tiefen Atemzug.

ANNA-Geschichte 2: Hüftschwung mit Schnaufern – meine erste Zumbastunde mit Anfang 50

Neulich hat mich bei einem Familienbesuch in meiner Heimatstadt meine liebe Schwägerin Simona, Mitte 30, eingeladen, probeweise an der von ihr angebotenen Zumbastunde teilzunehmen. Meine Gedankenabfolge war ungefähr so: “Das ist doch total anstrengend, die Kondition habe ich doch gar nicht. Dafür bin ich echt schon zu alt, oder? Oh mei, wie ich da wohl aussehen würde? — Ich habe keine Ausstattung dafür dabei. — Aber neugierig wäre ich schon sehr, auch um zu sehen, wie die Simona das macht. — Hey, ist doch wurscht, wie ich mich anstelle. Ich will Spaß haben. Niente panico!” Die Ausstattungsfrage ließ sich mit von Simona geliehener Kleidung improvisiert lösen. Ich kam also nicht mehr aus. Wasserflasche und Fotoapparat mussten auch mit – meine Rettungsanker, wie sich noch herausstellen sollte.

Mir ging es dann gemischt: Simona hat eine super-mitreißende Art, sie leitet unglaublich gut an! Ich verstehe, dass ihre Schülerinnen gerne zu ihr gehen. Und die fetzige Musik ging mir sofort in die Beine. Auch mein Hüftschwung war chachacha-geprägt nicht schlecht. Aber mein Körper hat zunehmend gejammert …  Zwar konnte ich die Bewegungsabläufe relativ gut abschauen, weil ich tanzerprobt bin und früher Aerobicstunden besucht habe. Aber die Puste ging mir schnell aus, da half mein langsames Jogging offenbar nichts.  Und die Hüpferei hat meinen Knien nicht gut getan, ganz zu schweigen davon, wie unangenehm es ist, dabei keinen Sport-BH anzuhaben …

Außerdem war ich von den Abfolgen tatsächlich ganz schön gefordert, vor allem wenn ich die Richtungsorientierung verlor. “Ja aber die anderen können das doch auch …?” Ich habe mir selbst gut zugeredet und mir bewusst klargemacht, dass die anderen nur ca. halb so alt wie ich sind; die könnten alle meine Töchter sein. Klar sind die fitter als ich. Außerdem mussten die die Bewegungsabläufe auch erst lernen; das kann niemand auf Anhieb. “Sind hier irgendwo andere Anfangsfünfzigerinnen, die zum ersten Mal mithoppeln? Ich könnte das auch lernen. Ich kann das halt noch nicht. Ich finde, für eine Anfängerin in meinem Alter mache das gut genug.” Zwischendrin habe ich mir ganz persönliche Trink- und Fotografierpausen gegönnt – wie eine Reporterin stand ich am Rand und habe das Ganze dokumentiert, nebenbei ein prima Alibi. Und in der zweiten Hälfte habe ich mir erlaubt, nicht mehr zu hüpfen und viele Bewegungen nur anzudeuten. Denn: Müssen tu ich hier gar nix – ich darf!”

Der innere Antreiber “Sei perfekt!” und wie wir ihn abschwächen können

Zwei Geschichten der fast-Überforderung – zwei unterschiedliche Umgangsweisen damit.

Schauen wir uns erst noch einmal die Italienischstunde an: Die Lehrerin Cristina hat einfach mal vorgefühlt, was geht. Sie hat nichts von ANNA  erwartet. Den Druck hat ANNA sich komplett selbst gemacht! Ein anderer Mensch hätte schlichtweg mit den Schultern gezuckt, Cristina freundlich angelächelt und geschwiegen. Oder – die aggressive Variante – ihr den womöglich den Vogel gezeigt: “Warum sind wir hier denn in der Anfängerklasse? Sie ist doch die Lehrerin …” So in der Art. Damals kam verschärfend ANNAs Erschöpfung hinzu, die sie sowieso schon dünnhäutiger empfinden und mit Tränen reagieren ließ; eine klassische Stressreaktion. Die Fürsorge der Lehrerin und das gemeinsame Lachen wirkten dagegen entspannend auf sie. (Aber Stressbewältigung, An- und Entspannung sind andere Themen, die ich jetzt hier nicht vertiefe.)

Wenn ANNA in der Zumbastunde noch denselben Perfektionismusanspruch wie damals bei der Italienischstunde gehabt hätte, wäre sie sicherlich wieder verzagt oder zumindest gnadenlos frustriert gewesen …  ANNA hatte sich in den Jahren dazwischen mit Selbststärkung beschäftigt und dabei u.a. mit ihren inneren Antreibern auseinandergesetzt.

Von den typischen fünf Antreibersätzen sind laut einem Testergebnis zwei bei ihr besonders ausgeprägt: “Mach es allen recht!” und “Sei perfekt!”. (Die weiteren lauten “Sei schnell!”, “Streng dich an!” und Sei stark!”.)
ANNA hat gelernt zu spüren, wenn die Antreiber nicht mehr nur unterstützend wirken, sondern sich belastend allzu breit machen. Und sie hat, begleitet von ihrer Coach-Frau, für sich Erlaubersätze formuliert – und zwar so feingeschmirgelt, dass sie ihr passen wie ein maßgefertigter Handschuh.
Mit ANNAs Genehmigung verrate ich Dir ihre ganz persönlichen Erlaubersätze: Der zum Antreiber “Sei perfekt!” lautet, “Ich darf alles gelassener angehen”.  Der Erlaubersatz zu “Mach es allen recht!” heißt bei ANNA, “Ich darf mir mehr Platz nehmen”. Beide helfen ihr, entspannter durchs Leben zu gehen – wie sich bei der Zumbastunde zeigt.

Fürsorglichkeit für die beste Freundin – sich selbst

Außerdem hat ANNA in der Zwischenzeit mehr Selbstfürsorge entwickelt. Sie geht achtsam mit ihren Bedürfnissen um, beispielsweise durch gute Ausstattung, Pausen und Verpflegung (in diesem Fall Wasser). Und sie redet sich selbst gut und unterstützend zu, wie sie es bei ihrer besten Freundin tun würde. Auch der Gedanke, sich nur mit echt Vergleichbaren zu vergleichen, ist ein Aspekt der Selbstfürsorge. In der Italienischstunde hatte Cristina die Rolle der Fürsorglichen; jetzt kann ANNA diese Rolle sich selbst gegenüber einnehmen.
In meinem Selbststärkungsseminar “Zaubersprüche gegen Stress – Strategien für inneres Gleichgewicht” ist das übrigens genau einer von “ANNAs Zaubersprüchen”: “Ich bin gut zu meiner besten Freundin – mir selbst”.

Fünf Kraftsätze gegen den eigenen Perfektionismus

ANNA und ich möchten Dir zusammenfassend fünf Sätze mitgeben, die Dir helfen sollen, Deinen Perfektionismus ein paar Nummern zu verkleinern. Wir wünschen Dir viel Spaß und Erfolg beim Ausprobieren!

  1. Ich muss nicht, ich darf.
  2. Ich kann das noch nicht. (Statt “Ich kann das nicht.”)
  3. Gut genug!
  4. Niente panico!
  5. Ich bin gut zu meiner besten Freundin – mir selbst.

Die perfekt unperfekten blauen Fensterläden

Abschließend möchte ich Dich noch einmal zur Ausgangsfrage zurückführen. Welche Gedanken sind Dir zum Foto gekommen?
Sind die südfranzösischen Fensterläden auf dem Foto nach korrekten typisch-deutschen Ansprüchen perfekt? Wohl eher nicht. Sind sie gut genug und erfüllen ihren Zweck? Sind sie im Vergleich zu vielen anderen funktionalen Fensterläden auf ihre ganz persönliche Art schön und tragen mit ihrem individuellen Charme sogar Freude in die Welt?

PS: Für Wissbegierige

Den Antreibertest findet Du in der Psychologie Heute, Februar 2002, S. 20 – 29.
“Gut genug” wurde durch den englischen Kinderpsychotherapeut Donald Winnicott eingeführt, um Mütter von ihrem selbstgestrickten Perfektionismus zu entlasten (“a good enough mother”).

 

Übrigens: Dieser Aufsatz ist Teil meines dritten Buchs “Wechsle mal die Brille! Impulse und Methoden zur Selbststärkung im Alltag”, das im Oktober 2018 erschienen ist.

Und jetzt Du: Welche Erfahrungen hast Du mit Deinem Antreiber “Sei perfekt!”? Hast Du Kraftsätze oder Rituale, die Dir helfen, ihn kleiner zu machen und dadurch das Leben mehr zu genießen?

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