Gewidmet meiner Freundin A., die mich gebeten hat, etwas Hilfreiches zum Thema Aufschieberitis zu schreiben. Aber gerne!
Aufschieberitis, im Fachjargon Prokrastination, ist eine energiezehrende Angelegenheit … Kennst Du das Phänomen, alles Mögliche andere zu tun als Dich Deiner eigentlichen wichtigen Aufgabe zu widmen, z.B. der Studienarbeit (und stattdessen putzt oder bügelst), der Ablageaktion auf Deinem zugewachsenen Schreibtisch (und stattdessen Zeitung liest), dem Arbeitsprojekt (und stattdessen vermeintlich wichtige Netzwerkgespräche führst)? Damit bist Du wahrlich nicht allein. Die jeweilige Aufgabe erscheint uns wie ein rieeeesiger Berg und macht uns richtiggehend Angst. Kein Wunder, dass wir sie vermeiden …
Ich zeige Dir hier drei – auch von mir selbst – erprobte und bewährte Strategien, mit denen Du selbstfürsorglich und achtsam aus beängstigend großen Themen unbedrohlich kleine machst, so dass Du sie dann tatsächlich bewältigst. Peu à peu und gelassen. Die drei greifen ineinander; alle drei haben eine Entschleunigung und eine Verkleinerung zum Ziel. Such Dir aus, welches Gedankenbild und Vorgehen Dir am besten gefällt!
Noch ein Gedankenstubs, bevor’s losgeht: Womöglich ist Dein eigener Anspruch an Dich so hoch, dass Du Deine Aufgabe scheust? Wie Du mit fünf Kraftsätzen Deinen eigenen Perfektionismus ein bisschen weniger mächtig machen kannst, erfährst Du in meinem Artikel “Niente panico” .
Gelassenheitsstrategie 1: Die Bergtour
Hier zitiere ich mich selbst aus meinem funkelnagelneuen, im Oktober 2016 erscheinenden Impuls- und Notizbuch “Mein Weg zu mehr Gelassenheit”. Beim Impulsthema Motivation schreibe ich:
“Motivationstipps für Riesenaufgaben: Zerlegen Sie Ihre „Tour“ in kleine, machbare Etappen. Planen Sie Zwischenpausen ein, in denen Sie sich regenerieren und zurückblicken auf die Strecke, die Sie bereits hinter sich haben. Das verschafft Ihnen regelmäßige Erfolgserlebnisse. Am Ende wird gefeiert. Malen Sie sich schon unterwegs aus, wie großartig Sie sich fühlen werden!”
Die Bergtourstrategie ist besonders geeignet für längerfristige Projekte. Nur blutige Laien laufen einfach los. Du bist ein Profi! Mach Dir also einen richtigen Plan: Was ist Dein großes Ziel? Welche Teilpäckchen (Touretappen) bieten sich an? Welche Informationen und Werkzeuge brauchst dafür (Karten, wetterfeste Ausstattung)? Wann und wo wirst Du wie Zwischenbilanz ziehen (Pausen, Regeneration)? Wer kann Dich unterstützen und beraten (Mitwandernde)? Wie wirst Du Dich wofür belohnen? Was wartet am Ende auf Dich (Blick vom Gipfel)?
Der besondere Trick ist das Vorwegnehmen der guten Gefühle. Mit dem Schwung “wie wenn ich es schon geschafft hätte” kannst Du viel leichter an die Dinge gehen!
Gelassenheitsstrategie 2: Beppo Straßenfeger
Michael Ende lässt im vierten Kapitel seines Buchs “Momo” den alten Beppo Straßenfeger erzählen, wie er es schafft eine schrecklich lange Straße zu schaffen, ohne zu verzweifeln oder aus der Puste zu kommen. Sein Geheimnis heißt “Schritt – Atemzug – Besenstrich”:
“‘Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muß nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.’ Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: ‘Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.'”
Am scharfen S siehst Du, dass meine Ausgabe alt ist – sie stammt schon von 1974, aus meiner Kindheit. Das macht den Inhalt jedoch nicht weniger aktuell. Hier geht’s um Achtsamkeit! Um die Konzentration auf das Hier und Jetzt, wie ich sie Dir in meinem Beitrag “Achtsamkeit: ‘Wenn ich schlafe, schlafe ich'” erläutere. Dort findest Du Links zu einer Reihe von kleinen Achtsamkeitsübungen, die Du prima in Deinen Alltag einbauen kannst.
Für Dein großes Projekt heißt das: Konzentriere Dich auf einzelne Arbeitssegmente und führe sie mit Konzentration aus. Sorge Dich nicht um die Zukunft, sondern bleibe in der Gegenwart! Gönne Dir eine bunte kleine Pause und atme, mache dann weiter. Setze den Rhythmus fort, bis Du Dein Tagesvorhaben erreicht hast. Bewusstes Ein- und Ausatmen ist Erste Hilfe gegen Stress! Wie Beppo sagt: Dann kannst Du besser weiterarbeiten, und alles macht mehr Freude.
Gelassenheitsstrategie 3: Baby Steps
Um diese kleinen Arbeitssegmente zu beschreiben, verwende ich gerne den Ausdruck “Baby Steps”. Ein kleiner Schritt nach dem anderen … Dieses Konzept ist bei mir schon vor Jahren aus einer Filmkomödie hängengeblieben: “Was ist mit Bob?” von 1991 mit Bill Murray.
Darin geht es unter anderem um das Buch “Babyschritte” (Baby Steps) eines Psychiaters, das seinen Patienten dazu anregt, alle Alltagsaufgaben, an denen er vorher schier gescheitert ist, in Kleinstschritte zu unterteilen: “Babyschritte zum Kühlschrank, Babyschritte zum Tisch” etc. Mit diesen Mini-Schritten schafft er es!
Um Deine großen Aufgaben zu schaffen, solltest Du sie also in Kleinsteinheiten zerteilen. Beim zugewachsenen Schreibtisch kann beispielsweise der Trick darin bestehen, die Unterlagen und Dinge in eine Reihe von kleinen Kartons zu verteilen. Nach und nach nimmst Du sie Dir vor und räumst jedes Teil in einem vorher festgelegten Zeitraum an seinen eigentlichen Ort – der auch der Papierkorb sein kann. Nach der Zeit, für die Du Dir am besten einen Wecker stellst, hörst Du wieder auf. Schon fünf Minuten bringen was, wenn Du Tag für Tag dran bleibst!
So kommt die kleine Schnecke auf den großen Berg Fuji
Eine schöne Zusammenfassung der drei Strategien ist für mich dieses Gedicht, ein Haiku aus dem alten Japan:
Ja, kleine Schnecke
Besteige den Berg Fuji
Aber ganz langsam
(Issa Kobayashi, 1763 – 1827)
Es finden sich viele leicht voneinander abweichende Übersetzungen. Ich wähle die aus dem wunderbar entschleunigenden Buch “Das Geräusch einer Schnecke beim Essen” von Elisabeth Tova Bailey. Ein Lesetipp!
Übrigens: Dieser Aufsatz ist Teil meines dritten Buchs “Wechsle mal die Brille! Impulse und Methoden zur Selbststärkung im Alltag”, das im Oktober 2018 erschienen ist.
Und jetzt Du: Welche Erfahrungen hast Du mit der Aufschieberitis? Welche Gelassenheitsstrategien dagegen kannst Du empfehlen?
Sehr gut, Sandra! Die Beispiele, die Strategien, die Erklärungen, die Zitate.
Ich für mich habe mir eine dritte Strategie anerzogen, die mir in manchen Bereichen im Vorfeld sehr hilft: nämlich den Berg gar nicht erst so hoch werden zu lassen. Also: warum die Schuhe irgendwohin schleudern und nicht gleich am richtigen Ort abstellen? Warum den Mantel über einen Stuhl werfen und nicht gleich an den Garderobenhaken hängen? Warum Zeitungen irgendwo im Raum verteilt ablegen und nicht… Die Beispiele ließen sich unendlich fortsetzen und auch auf viele weniger banale Situationen übertragen. Es gleich zu tun macht gar keine Mühe, ehrlich, aber es macht ein gutes Gefühl!
Danke für Dein schönes Feedback, liebe Petra!
Auf die sehr schöne Beispiele Deiner Vorfeld-Strategie – dicken Dank dafür! – werde ich gerne mal in einem anderen Beitrag zurückkommen. Hier ging’s darum, mit der subjektiv großen, wie auch immer entstandenen oder an einen herangetragenen Aufgabe klarzukommen. Wer so handelt, wie Du es beschreibst, kennt vielleicht den Leidensdruck der Aufschieberitis nicht so . Er/sie schiebst ja nix auf, sondern tut es gleich.
Glückwunsch, dass Du Dir auf diese Weise gute Gefühle verschaffst!
Liebe Grüße
Sandra (durchaus vertraut mit Kleider- und Papierstapeln …)
Erst mal eine Korrektur. Es ist natürlich nicht eine dritte, sondern eine vierte Strategie, von der ich berichtet habe.
Selbstverständlich weiß ich, was Dein Thema war, und das hast Du auch hervorragend und hilfreich bearbeitet. Und selbstverständlich kenne leider auch ich das Problem der Aufschieberitis. Aber durch ein bisschen Disziplin und die von Dir angesprochene gedankliche Vorwegnahme der guten Gefühle, wenn man den Berg klein und überschaubar halten kann, belastet mich einfach weniger Unerledigtes. Ein simpler Trick, sehr zur Nachahmung zu empfehlen!
Bin schon gespannt auf einen Beitrag von Dir zu diesem Thema.
Liebe Grüße
Petra
Ja, ein super Selbststärkungstrick, liebe Petra! Du schreibst ja so schön, dass Du Dir das “erledige es sofort” selbst anerzogen hast. Das macht uns anderen Hoffnung, dass wir das auch können!
Toll, dass Du und Anja (in einem anderen Kommentar) mir hier gleich mehrere Hinweise gebt, wozu ich noch schreiben könnte. Bin selbst schon gespannt, was ich draus machen werde. Wunderbar, dass Ihr auch konkrete Beispiele aus Euren Leben beitragt!
Herzlich, Sandra
Liebe Sandra,
ein dickes kollegiales Dankeschön für diesen Artikel!
Es ist so ent-lastend Gelassenheitsstrategien an der Hand zu haben, wenn selbstkreierte Projekte und Projekte des Lebens zusammentreffen und es Momente gibt, in denen frau das Gefühl hat vor einem Riesenberg zu stehen, plus den Anspruch an sich selbst diesen im Dauerlauf erklimmen zu müssen.
Darum kommt Dein Artikel in meine Gelassenheits-Schatzkiste, weil er für solche Momente ein Geschenk ist!
Und die eigenen Coachingwerkzeugkiste, bei einem selbst manchmal klemmt!
Alles Liebe!
Jutta
Oh, Dein Lob aus kompetentem Munde macht mich stolz und freut mich riesig, liebe Jutta! Vielen Dank dafür!
“Ent-lastend”, “Gelassenheits-Schatzkiste”, “Geschenk”, “die eigene Coachingwerkzeugkiste”: wunderbar!
Liebe Grüße und voll Vorfreude auf unsere nächste kollegiale Gemeinschaftsaktion
Sandra
Liebe Sandra,
vielen Dank für diesen Artikel! Ich finde, er ist ein wichtiger Baustein! Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Themen gehören nämlich noch irgendwie dazu.
Petra spricht eines davon an: Prävention, wie kann ich vorbeugend meinen Berg klein halten.
Dein Text, bei dem es um das Zerlegen der großen Aufgabe in mundgerechte Stücke geht.
Darüber hinaus gehören für mich noch die Themen Motivation und Durchhaltevermögen dazu.
Oft geht es ja darum, große Aufgaben überhaupt erst einmal anzupacken. Hier stellen sich mir die Fragen, wie motiviere ich mich, es tatsächlich anzupacken und nicht nur von dem tollen Gefühl zu träumen, wie es sein wird, wenn es erledigt wurde. Und der zweite Part ist tatsächlich dann noch mal das Durchhaltevermögen. Für Beppo oder auch bei der Bergtour steht es außer Frage, dass die ganze Straße gekehrt wird bzw. der Gipfel auch erklommen wird.
Das wären zwei Themen, die ich mir wünschen würde!
LG
Anja
Liebe Anja, schön, dass der Artikel für Dich wichtig ist!
Und herzlichen Dank für Deine Impulse zu weiteren Artikelthemen! Neben Prävention (Petras Kommentar) sind das also Motivation und Durchhaltevermögen. Darüber muss ich mal nachdenken …
Meine Vorschlag ist, nicht nur von dem tollen Gefühl zu träumen, sondern Dich von ihm erfüllen zu lassen. Wie wirst Du Dich fühlen, Dich bewegen, wie denken und sprechen, wenn Du Deine große Aufgabe (oder auch den Teilschritt) geschafft haben wirst? Probiere es körperlich aus! Tanze durch’s Zimmer, wenn Dir danach ist! Lach Dich freudig im Spiegel an! Und DANN gehe mit dem Powergefühl Deine Aufgabe an.
Liebe Grüße
Sandra
Also das Geräusch was eine Schnecke macht wenn man drauf beißt, ist ähnlich wei wenn man auf etwas gummiartiges beißt. Kann dann und wann auch mal knirschen.
Eigentlich meint der Buchtitel, wie es klingt, wenn Schnecken etwas essen, Filipp … Und welch geradezu meditative Wirkung es für die damals schwerkranke Autorin hatte, sie zu beobachten.
Ich hoffe, der Artikel hat Dir was gebracht – immerhin hast Du ihn ja sichtlich bis zum Ende gelesen.
Lass Dir’s schmecken – was auch immer!
Genussgrüße
Sandra
Liebe Sandra,
wunderbar! Das war mir alles klar. Wollte nur schelmisch deine Humorfähigkeit testen. Und du hast mit Bravur bestanden.
Liebe Grüße nach München.
…übrigens. Ich hatte im Mai eine Visionssuche in der Natur. Und auf dem Rückweg sind mir sehr viele Schnecken begegnet. Überall. Und ich dachte mich das ist kein Zufall. Später ist mir dann klar geworden warum. Ich muss einfach alles viel viel langsamer machen und aufhören so zu hetzen. Daher habe ich die Schnecke zu meinem Totemtier gemacht. Und seit dem auch nicht mehr gegessen!
Lieber Filipp,
na da bin ich aber froh, dass ich Deine Prüfung bestanden habe.
Herzlichen Glückwunsch zu der schönen Erkenntnis, wie gut Dir Entschleunigung tun wird!
Grüße aus München
Sandra